
Maurizio Guerri
Die Skulptur als Ans-Licht-bringen des menschlichen Daseins-
Der Sonnenring von Salomé Mohs und Dominik Mohs
(Aus dem italienischen von Volker Grobbel)
„Es ist nicht nur immer nötig, dass das Wahre sich verkörpere;
schon genug, wenn es geistig umherschwebt und Übereinstimmung bewirkt,
wenn es wie Glockenton ernst-freundlich durch die Lüfte wogt. „ (J.W.Goethe)
1. Die Skulptur Sonnenring von Salomé Mohs und Dominik Mohs für den
Garten der Ziegelhütte der Darmstädter Sezession ist als ein auf die
Bewegung der Sonne verweisendes Werk konzipiert, das aus ihrem Licht
einen Ort zeichnet, der einlädt ihn zu betreten und zu beobachten, um
die stereotypischen alltäglichen Visionen zurückzulassen und die
herkömmlichen Kategorien von Zeit und Raum verwischen zu lassen.
Der Sonnenring zeichnet einen Orbit und umschließt den Raum, der ihn in
einen Ort durch die Leere verwandelt und dadurch das eigene der
Skulptur hervorbringt.
2. Angesichts mehrerer Gedanken und Fragen, die beim Betrachten eines
Kunstwerks im Allgemeinen auftauchen, gehe ich auf einige Fragen ein,
die sich noch zum Projekt und zum Modell des Sonnenrings stellen.
Von den Kunstwerken, vor allem von denjenigen Kunstwerken, die für den
öffentlichen Raum bestimmt sind, sind wir gewohnt, einfach zu sagen: „Es
gefällt mir“ oder „Es gefällt mir nicht.“
Wir gehen nicht auf radikalere Fragestellungen ein, wozu uns die
Skulptur, Malerei oder welchen Kunstwerk auch immer, anregen und
antreiben. Der Betrachter tut so, als ob das Kunstwerk ein Phänomen der
subjektiven Wahrnehmung und seine einzige Rolle diejenige eines
Einrichtungsgegenstandes mit nebensächlichen Zusatzfunktionen des
öffentlichen Raumes sei.
Die Fragestellung ist folgende: Was für ein Sinn macht es, die Künstler
zu unterstützen, die Kunstwerke für die Gemeinschaft schaffen und ob
die Stadtbewohner diese wirkliche brauchen?
Es ist von besonderer Wichtigkeit auf diese Fragestellungen einzugehen,
weil es in einer Epoche, die wir allgemein als eine Epoche der Arbeit
bezeichnen können, wenig nachvollziehbar ist, wozu ein Kunstwerk
benötigt wird, vor allem ein Kunstwerk, dessen Ziel es ist, einen Park
oder einen Platz schön zu machen. Kurzum: Welche Funktion hat die
Kunst heute in unserer Gesellschaft? Die Antwort ist denkbar einfach:
keine. Die Kunst wurde entmachtet von jeglicher Funktion innerhalb der
zeitgenössischen Welt und genau deshalb ist sie eine wesentliche und
unverzichtbare Tätigkeit.
Man kann heute auf verschiedene Art und Weise über die Kunst reden,
aber wie man auch darüber redet, man gerät in Sphären der Kultur, die
zu den Wissensformen zurückverweisen, die in der Praxis als ephemer,
haltlos oder inkonsistent verstanden werden, da sie zum Ausgangspunkt
nehmen, was der westliche Erkenntniswurf (progetto di conoscenza) seit
Jahrhunderten aus dem System der Vorstellung über das Wahre
ausgeschlossen hat. Tag für Tag wächst die Herrschaft im Bereich des
Materiellen durch die Kontrolle über die Materie, die experimentelle
Wissenschaften in die Tat umsetzen, während das Dasein immer mehr
zwischen Gesetzen aus dem Diktat ökonomischer Vorschriften eingezwängt
wird.
Es gibt keinen Raum für die Kunst, es sei denn, sie verzichtet auf ihr
eigenes Wesen, indem sie sich auf den Kunstmarkt oder in die
industrielle Produktion in Form des Designs begibt.
Vor gut sechzig Jahren wurde einer der größten Physiker des XX.
Jahrhunderts, Werner Heisenberg, von der Bayerischen Akademie der
Schönen Künste nach München eingeladen, um ein Referat im Rahmen der
Serie der Zusammenkünfte zwischen herausragenden Philosophen, Künstlern
und Wissenschaftlern mit dem Titel „Die Künste im technischen
Zeitalter“ zu halten. Die eigentliche Fragestellung, die
dieser wichtige Vertreter der deutschen Kultur sich stellte , ist
dieselbe, die ich mir vor dem Projekt Sonnenring für die Darmstädter
Sezession stelle und die, die sich viele andere stellen werden im
Hinblick auf von Bildhauern geschaffene Kunstwerke:
Was für eine Rolle bleibt der Kunst im Zeitalter, in dem sich die
westliche Techniken und die experimentellen Wissenschaften effektiv in
eine Stellung von planetarischem Niveau gebracht haben, übrig?
In seinem Bericht „Das Naturbild der heutigen Physik“ beschreibt
Heisenberg die Veränderung der Physik, sie sich ausgehend von der
Naturbeobachtung in eine experimentelle Wissenschaft verwandelt. Dies
bringt ein aktives Eingreifen innerhalb dessen, was sie beobachtet, mit
sich.
Das letzte Stadium der Geschichte der Naturwissenschaft, wird durch die
Quantenphysik repräsentiert, deren herausragender Vertreter Heisenberg
gewesen ist.
„Die Naturwissenschaft“, schreibt Heisenberg, „steht
nicht mehr als Beschauer der Natur, sondern erkennst sich selbst als
Teil dieses Wechselspiels zwischen Mensch und Natur. Die
wissenschaftliche Methode des Aussondern, Erklärens und Ordnens wird
sich der Grenzen bewusst, die ihr dadurch gesetzt sind, dass der
Zugriff der Methode ihren Gegenstand verändert und umgestaltet, dass
sich die Methode nicht mehr vom Gegenstand distanzieren kann. Das
naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich
naturwissenschaftliches zu sein.“
Der Mensch steht vor sich selbst, vor dem eigenen Eingreifen in die
Natur und in dieses Zusammentreffen muss der Mensch unausweichlich
getrieben werden, um zu erkennen, dass „die Hoffnung“ auf unendliche
materielle und geistige Ausdehnung ihre Grenzen findet. Von Europa
ausgehend ist die Welt in einem immer weiter werdenden Netz von
Prozessen der Industrialisierung, Elektrifizierung, Informatisierung,
Gesundmachung, Beschleunigung, Effizienzialisierung eingehüllt, die,
wenn sie auch zum Ziel die Vereinfachung des menschlichen Daseins hat,
den Menschen andererseits im Namen der Logik und des Fortschritts unter
einen eindringenden, allgegenwärtigen, brutalen Druck setzt, den
vorherige Zivilisationen nicht kannten. Heisenberg hält die Lage des
zeitgenössischen Menschen in einem Sinnbild fest.
Der zeitgenössische
Mensch ist wie ein Kapitän, „dessen Schiff so stark aus Stahl und Eisen
gebaut ist, dass die Magnetnadel seines Kompasses nur noch auf die
Eisenmasse des Schiffes zeigt, aber nicht mehr nach Norden. Mit einem
solchen Schiff kann man kein Ziel mehr erreiche, es wird nur noch im
Kreise fahren und daneben dem Wind und der Strömung ausgeliefert
sein“ Diese Gefahr besteht aber „solange der Kapitän nicht weiß, dass
sein Kompass nicht mehr auf die magnetischen Kräfte der Erde reagiert.
In dem Augenblick, in dem Klarheit geschaffen ist, kann die Gefahr
schon als halb beseitigt gelten“.
Damit der Mensch anfangen kann, sich neu zu orientieren, muss er sich
dessen bewusst werden, sei es von den Grenzen, innerhalb deren er
gezwungen ist, sei es von den Möglichkeiten, die ihm angeboten werden
und deshalb andere Formen der Orientierung ergreifen.
Im Heisenbergschem Sinnbild ist die Möglichkeit der Auffindung der
Kompasse, die nicht auf die Eisenmasse des Schiffes reagieren und die
Rückkehr zur Beschauung des Sternenhimmels aufgezeigt, offensichtlich
zwei Möglichkeiten, die sich gegenseitig nicht ausschließen.
Ja, aber was hat nun mit Alledem die Kunst zu tun? Es geht um die Kunst
insofern, als dass sie eine der Möglichkeiten der Orientierung bietet,
von denen Heisenberg in seinem Diskurs in der Münchener Akademie
der schönen Künste sprach. Die Kunst, schrieb Ernst Jünger,
repräsentiert heute eine „Oase“ in der Wüste des Nihilismus, einen Ort,
der erlaubt, dem Menschen die Freiheit und das Glück zu bewahren - und
damit den Sinn des eigenen Daseins innerhalb des planetarischen
Systems, in die er nur eingefügt scheint, um des Funktionierens willen
und zur Begünstigung der Bewegung des Systems der Getriebe, zwischen
die er eingezwängt ist.
Es gibt Formen der Erkenntnis, die sich mehr als die anderen wehren und
Widerstand leisten gegen die Reduktion des Daseins auf die bloße Frage
nach dem Funktionieren oder der Bilanz.
Heute ist das Leben – so hören wir es unaufhörlich – auch das, aber
trotzdem, wenn das Leben, sei es auf individuellen oder kollektiven
Ebene nur darauf reduziert wird, so kann es nicht mehr Leben heißen.
Niemand wird vernünftigerweise auf jegliche Formen des Glücks und der
Freiheit verzichten, die nicht auf der Grundlage des Arbeitsprinzips
wachsen. Deshalb sollte derjenige, der es nicht schafft, sich der
Ausnutzung und der Einebnung, zu dem die automatisierte Welt neigt,
sich entziehen, sich an die Kunst wenden, die eine Quelle der
Lebenskraft und die Möglichkeit, sich zu orientieren, darstellt.
Die Nutzlosigkeit der Kunst auf der Ebene der globalen Organisation des
Daseins ist heute schon ein Widerstand gegen das bloße Funktionieren,
ein Übermaß des Lebens, ein Einnisten, Einsiedeln der Freiheit im
Dasein des Menschen oder wie Picasso gesagt hat:
„Die Kunst ist dazu
da, sich den Staub des Alltags von der Seele zu waschen“.
3. Der Sonnenring von Salomé Mohs und Dominik Mohs ist ein
Werk, das beabsichtigt die Orientierung im Raum zurückzubringen. Dieses
ist eine wesentliche und unverzichtbare Haltung des Menschen, eine
Betrachtungsweise, die Freiheit und Glück des Menschen schützt und
bewahrt.
Im Sonnenring wird der Betrachter dazu aufgefordert, sich zu fragen,
was seine eigene Position auf der Erde ist, im Kosmos, im Raum, sich
über die Quelle des Lichtes zu befragen, ob die Art und Weise, in der
er die Welt wahrnimmt die einzig mögliche und vernünftige ist. Martin
Heidegger schreibt in Der Kunst und der Raum:
„die Plastik wäre die
Verkörperung von Orten, die eine Gegend öffnend und sie verwahrend, ein
Freies um sich versammelt halten, das ein Verweilen gewährt den
jeweiligen Dingen und ein Wohnen dem Menschen inmitten der Dinge“ (S.
32-33).
Der Sonnenring hat im Zentrum, in der Mitte Leere und das ist die
Leere, die man immer betrachten sollte, wenn man das bildhauerische
Werk betrachtet:
„Vermutlich ist jedoch die Leere gerade mit der
Eigentümlichkeit des Ortes verschwistert und darum kein Fehlen, sondern
ein Hervorbringen (S. 36).
Für Heidegger ist die Leere eng verbunden
mit dem ursprünglichen Sinn des Lesens:
„Wiederum kann uns die Sprache
einen Wink geben. Im Zeitwort leeren spricht das Lesen im
ursprünglichen Sinne des Versammelns, das im Ort waltet“ (S. 36).
Das
Besondere einer Skulptur besteht in ihrer Möglichkeit, einen Ort zu
bewohnen. Dass der Ort aber für den Menschen bewohnbar wird, ist durch
die Formwendung des Werkes sichergestellt.
„Das Glas leeren heißt: es als das Fassende in sein Freigewordenes versammeln“ (S. 36).
So erinnert uns der Sonnenring, dass die Leere kein Nichts ist, wie es
nicht einmal der Mangel ist, hingegen, wie Heidegger schreibt:
„in der plastischen Verkörperung spielt die Leere in der Weise des „suchend-entwerfenden Stiftens von Orten“.
Der Sonnenring verweist auf die Möglichkeit des Formwerdens einer
Skulptur als einem Ans-Licht-bringen, dem tiefsten Sinn des Wohnens der
Menschen auf Erden.
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